Einsatzkonzept: Naziaufmarsch

Neonazidemos in Berlin sind schon seit Jahren ein leidiges Thema. Die Bullen setzen für gewöhnlich alles daran, jenes Recht durchzusetzen, welches es den Neonazis ermöglicht, ihre Ideologie in die Öffentlichkeit zu tragen. Damit sie unbesorgt und ohne „Störungen“ marschieren können, setzen die Bullen meist auf die im Folgenden erläuterten Konzepte. Der Polizeibericht 2010 erläuterte dies anhand von Beispielen zwischen 2005 und 2009. Wir wollen dies durch die jüngeren und jüngsten Erfahrungen ergänzen: Von verschiedenen Protesten in Berlin Mitte, von den Hess-Märschen 2017 und 2018 sowie von der Blockade der Identitären Bewegung 2017 und des 3. Wegs im Oktober 2020.

Schutz der Demos

Neonaziaufmärsche werden regelmäßig von einem zahlenmäßig starken Bullenaufgebot eskortiert. Entgegen linken Demos laufen die Bullen aber nur mit einem relativ groben Spalier neben der Demo her, um diese gegen Angriffe von Außen zu schützen. Mit Aktionen aus dem Aufmarsch heraus scheinen die Cops in Berlin offenbar nicht zu rechnen. Neben dem vergleichsweise schwachen Aufgebot, das direkt an den Neonazis dran ist, befindet sich der Großteil des eskortierenden Bullenmobs bis auf Weiteres als Reserve in Gruppenkraftwagen (GruKw), die unmittelbar vor und hinter der Demo her fahren. Die Route vor dem Aufmarsch ist bei diesem Konzept meist die ganze Zeit über frei zugänglich. Man* sollte sich jedoch vor den sporadisch die Strecke abfahrenden Bullenspäher*innen in Acht nehmen. Dabei handelt es sich für gewöhnlich um einzelne Zivikarren, vollbesetzte Gruppenkraftwagen und Fahrzeuge des Verkehrsdienstes. Werden Gegendemonstrant*innen ausgemacht, ruft dies in der Regel erstmal Zivis auf den Plan, welche die Aktivist*innen dann nach Möglichkeit fortlaufend und offen observieren. Gelegentlich werden auch uniformierte Verstärkungen (eins, zwei GruKw) hinzu gerufen, die entdeckte Aktivist*innen erst einmal festsetzen, sämtliche Personalien feststellen und letztendlich Platzverweise aussprechen. Damit versuchen die Bullen „Störungen“ im Vorfeld zu unterbinden. Wenn der Aufmarsch bis auf wenige Querstraßen näher kommt, steigt die Bullenpräsenz deutlich an. Nicht selten überwacht dann z.B. ein Helikopter das Umfeld von ein paar Blöcken um den Aufmarsch und auch die Bestreifung des Geländes durch vollbesetzte Gruppenkraftwagen nimmt merklich zu. Sobald der Aufmarsch sich bekannten Gegenaktionen (z.B. Kundgebungen) oder auffälligen Konzentrationen von Gegendemonstrant*innen nähert, wird das Aufgebot am Aufmarsch selbst, besonders an der Front, durch Reservebullen aus den begleitenden Gruppenkraftwagen verstärkt. Diese kümmern sich nun darum, den Neonazis die Strecke frei zu machen.

Aktionskarte, auf der neben Kundgebungsorten auch die am Vorabend platzierten Gitter samt Foto eingezeichnet sind.
Next Level Aktionskarte: Beim Naziaufmarsch in Wartenberg war der Beginn der Route fleißig abgesperrt. Schon am Vortag standen an allen Ecken und Enden Gitter parat. Dies entspricht dem sogleich vorgestellten Szenario Schutz der Route.
Blockade auf unabgespertter Strecke (keine Gitter am Rand!). Ein großer Teil der Strecke (vorheriges Foto linksunten der Schlenker) war jedoch nicht gegittert und von der Polizei eher schlecht als recht geschützt. Hier konnten Antifas auf die Route gelangen und über kürzere oder längere Zeit blockieren.
Der Startpunkt hingegen war von Anfang an gut durch Gitter, EHus inklusive Hunden und zivile Kräfte gesichert.

Schutz der Route

Bei diesem Konzept zielt der polizeiliche Kräfteeinsatz darauf ab, ein Gebiet um die Naziroute herum praktisch abzuriegeln. Um die Route des Aufmarsches herum errichten die Bullen dazu eine weitläufige „Sicherheitszone“, die durch ein massives Aufgebot umringt wird. Sämtliche Zugänge (Straßen, Brücken, etc.) werden mit Polizeitrupps besetzt bzw. dicht gemacht (Hamburger Gitter, Wannen etc.). Innerhalb dieser besetzten und staatlich geschützten „National befreiten Zone“ sind nur vereinzelte Polizeipatrouillen unterwegs. Gegendemonstrant*innen sollten nämlich schon am Rande der Sicherheitszone „aussortiert“ werden. Aus diesem Grund wird der Aufmarsch auch von einem verhältnismäßig schwachen Aufgebot eskortiert, da nicht mit größeren Störungen gerechnet wird. Dieses Konzept wird mittlerweile im Berliner Regierungsviertel häufig angewendet. Hier gibt es leicht versperrbare Straßen und es kommt selten eine kritische und entschlossene Masse zusammen. Allein Hamburger Gitter erscheinen oft als unüberwindbares Hindernis.

Blockieren, sabotieren, verhindern!?

Schauen wir uns zeitgenössische Mobilisierungen an, dann scheint es als erschöpfe sich das Aktionsrepertoire der Berliner Szene in „bunten“ Kundgebungen, zögerlichen Sitzblockaden und Spontandemos. Davon abgesehen, dass diese Aktionsformen in den seltensten Fällen in ihrem eigentlichen Ziel, der faktischen Verhinderung neonazistischer Veranstaltungen, aufgehen, so wird jenes Engagement in Politik und Medien oftmals gekonnt als Ausdruck „demokratischen Gegenprotestes“ inszeniert und nicht zuletzt auch instrumentalisiert. Im Hinblick auf die im Polizeibericht 2009/10 veröffentlichte Kritik an zivilgesellschaftlich orientierten Blockadekonzepten, sowie der Gegenüberstellung mit militanter Antifa-Praxis, hat das Berliner Bündnis NS-Verherrlichung Stoppen in der Nachbereitung zum Hess-Marsch 2018 ein bemerkenswertes Fazit gezogen – der Text lohnt sich in Gänze:  “Im Vorbereitungskreis zu den Protesten gegen den Heß-Aufmarsch gibt es unterschiedliche Positionen dazu, wie wirksam diese Massenblockaden sind und was sie mit der Bewegung gemacht haben, man ist sich jedoch dazu einig, dass dieses Konzept nicht mehr funktionieren kann, besonders mit Blick auf Berlin.”

Ein neueres Beispiel für die Diskussionen um zivilgesellschaftliche Massenblockaden und militante Antifa-Praxis ist der Aufmarschversuch des 3. Wegs am 3.10.2020 in Berlin Wartenberg. Dieser Tag dürfte vielen Aktivist*innen noch als halbwegs erfolgreicher Tag in Erinnerung sein. Die Nazis vom 3. Weg mussten stundenlang warten und durften am Ende lediglich einmal um den Block laufen, wobei sie auch noch einige Steine abbekamen.

An diesem Tag sind verhältnismäßig viele Linke, Anarchist*innen, Gewerkschafter*innen, Parteiangehörige und Autonome Antifas auf die Straße gegangen. Die Berliner Szene hat mit verschiedenen Bündnissen und extrem vielen Plakatkampagnen den Tag intensiv vorbereitet. Neben einigen Kundgebungen an verschiedenen Stellen und Gegendemo-Anmeldungen, gab es mehrere Anreisen – per Fahrrad, Tram und S-Bahn sowie einige Kleingruppen-Aktionen.

Doch auch an diesem Tag hingen die Erfolgsaussichten der Verhinderung maßgeblich von der Motivation der Politik und Polizei ab. So riegelte sie zwar wie gewohnt den Sammelpunkt der Neonazis weiträumig ab, staute die per S-Bahn-Anreisenden Personen am Bahnhof Wartenberg, stoppte gar eine folgende S-Bahn schon früher, prügelte einige Blockadeversuche brutal von Straße und verhinderte auch zeitlich, dass „beide Lager“ aufeinander treffen. Doch zwei größere Blockaden wurden verhältnismäßig lange Sitzen gelassen, sodass sie sich neu formieren, wachsen, organisieren und hinter sich eine stabile Masse an Menschen sammeln konnte.

Die Kehrseite dieser Massenblockade war jedoch, dass an anderer Stelle der Weg freigeprügelt wurde, viele Blockierer*innen festgenommen und mit haltlosen Vorwürfen überzogen wurden. Die Repressionsmaschine lief auch nach dem 03.10. und wird die Berliner Szene noch beschäftigen. Die selbe Kombination an temporär tolerierten Widerstand und Brutaltät und Repression an allen anderen Stellen, ließ sich auch bei der Blockade der Identitären Bewegung im Juni 2017 beobachten. Hier gelangten einige Kleingruppen über Hinterhöfe auf die Straße und konnten dort relevativ unbeschwert sitzen, bis sich hinter ihnen an den Gittern genug Menschen versammelt hatten. Doch auch hier kam es zu gut 100 Festnahmen von Aktivist*innen an anderen Stellen.

Nicht zu vergessen sind jedoch im Zuge von dieser Blockade auch die unter dem Radar verlaufenen Aktionen im Umfeld: Ein Zivi-Auto wurde beispielsweise entglast und als die Nazis vom 3. Weg dann zu ihrer Runde um den Block ansetzten, wurden einige Steine auf sie geworfen. Dennoch waren diese Aktionen selbst keine Verhinderung, sondern “nur” vereinzelte Zeichen, die in Richtung Polizei und Nazis gesetzt wurden.

Kaputt.

Dennoch muss das Fazit eines solches Tages laute: Der „Erfolg“ war geschenkt und gleichzeitig teuer erkauft. Dieser Modus, bei dem viele Akteur*innen ihr Gesicht wahren können, ist auch schon von weiteren Blockadeversuchen aus der Vergangenheit bekannt:  der sog. Frauenmarsch in Kreuzberg oder die Hess-Demos in Spandau. Teilweise waren diese Ergebnisse auch absehbar, weil nur ein Teil der Route (am Vorabend und Vormittag) gegittert wurde. Insofern können diese Aufmärsche wohl kaum als Maßstab dienen, wenn es darum geht, erfolgreich verlaufene Aktionskonzepte zu analysieren.

Vom kontrollierten Protest zum Kontrollverlust

Ein solcher “kontrollierter Protest” mit vielen Festnahmen wird der Polizei vor allem dadurch ermöglicht, dass sie im Vorhinein viele Informationen auswerten kann. So ist es für sie einfach prognostizierbar, an welchen Orten mit Kundgebungen, Aufzügen und möglichen Folgeaktionen (Sitzblockaden, Spontanaufzügen) zu rechnen ist. Nicht zuletzt durch entsprechende Anmeldung bei den Versammlungsbehörden. Auf Grundlage dieser, einige Tage im Voraus erstellten und präzisen Prognose können die Bullen dann auch tatsächlich an entsprechenden Stellen ausreichend Kräfte vorhalten und damit die Aktionen in einem von ihnen „kontrollierten Rahmen“ ablaufen lassen. In einem so vorhersehbaren Planspiel gibt es für mehrere Hundert hochgerüstete Riotcops keine Sitzblockade, die nicht geräumt, keine Kundgebung, die nicht gekesselt und keinen Aufzug, der nicht nach Belieben aufgehalten, abgedrängt oder zerstreut werden könnte.

Sobald sich aber an unvorhersehbaren Orten Eskalationen ereignen, stehen die Bullen trotz ihrer Masse vor einem Problem. Denn im Rahmen komplexer Einsatzverläufe sind Einheiten im Falle unerwarteter Ereignisse nicht ohne Weiteres aus der Planung heraus zu lösen. Selbst wenn einige Straßen entfernt freie Reserven bereit stehen, setzt ihr Einsatz vorerst die Überwindung einer gewissen Distanz und ggf. eine Neuformierung voraus, um ein adäquates Vorgehen am Einsatzort zu koordinieren: Je nachdem wie übersichtlich sich die konkrete Lage vor Ort gestaltet. Beide Punkte sind gleichbedeutend mit einem Zeitverzug, den dezentral agierende Mobs zu nutzen wissen. Wenn alles gut läuft, können die Bullen später nur noch die Scherben beiseite räumen. Geschehen derartige Aktionen an mehreren Orten gleichzeitig oder eng aufeinander folgend, gerät die Lage für die Bullen gewissermaßen außer Kontrolle. Die Einsatzleitung wird mit Aktionen konfrontiert, die a) unvorhersehbar waren b) nicht einzuschätzen sind, in wie weit sie sich noch ausweiten können. Wenn dies erstmal der Fall ist, kommt früher oder später der Punkt, wo die Bullen an allen Ecken und Enden überfordert sind, weil die Situation für sie immer mehr Unbekannte hat. Kräfte können dann nicht mehr der Lage angepasst und zeitnah koordiniert werden – beste Voraussetzungen für einen groß angelegten Kontrollverlust. Ob dieses Konzept Erfolg haben kann, wurde durch die Berliner Antifaschist*innen schon lange nicht mehr getestet.